Kommentar zur EU-Wahl
Kommentar von Judith Kohlenberger, Migrationsforscherin und Vorstandsmitglied des Integrationshauses, zur Europawahl
Europas Bevölkerung hätte nun genug von „unkontrollierter Massenmigration“ und würde den dafür verantwortlichen Politiker:innen einen Denkzettel verpassen wollen – so die Einschätzung eines Großteils der Analysen zum EU-Wahlergebnis in Österreich und international. Das mag die vorherrschende Motivlage manch eines Mitte-Rechts-Wählers beschreiben, hält jedoch einem Abgleich mit der tatsächlichen EU-Asylpolitik der letzten Jahre nicht stand:
Seit 2015 fahren Mitteparteien, darunter jene, die in ihren Ländern in Regierungsverantwortung sind bzw. waren, einen immer restriktiveren Asylkurs. Längst diskutiert man quer durch das politische Spektrum über Abschottung, Abschreckung und Auslagerung als Patentrezept. Noch vor wenigen Jahren hätte keine Mittepartei ernsthaft die Auslagerung von Flüchtlingen nach Ruanda überlegt, zu bizarr muteten solche Pläne damals noch an.
Die vielfach bemängelte „unkontrollierte“ Zuwanderung nach Europa findet nicht statt. Seit Jahren wird an zahlreichen Schengengrenzen, darunter zwischen Österreich und Deutschland, lückenlos kontrolliert. 2018 gab es weltweit sechsmal so viele Grenzmauern und -zäune wie während des Kalten Krieges. Kontrollen an der EU-Außengrenze und den Binnengrenzen haben zugenommen, mit Stacheldraht, Drohnen, Wärmesensoren und Künstlicher Intelligenz werden Übertritte verhindert. Völkerrechtswidrige Pushbacks in der Ägäis und entlang der Balkanroute sind zu einer akzeptierten Form der Grenzsicherung geworden. Kidnapping, Sklaverei und sexuelle Ausbeutung gehören an der Peripherie Europas zum Alltag, ebenso wie Treibjagden durch paramilitärische Truppen und Kampfhunde. Menschen auf der Flucht, NGOs und Seenotretter:innen werden systematisch kriminalisiert. All das hat die europäische Bevölkerung an folgenlos bleibende Menschenrechtverstöße, an Brutalisierung und Dehumanisierung jener, die „fremd“ sind, gewöhnt.
Das Ergebnis der EU-Wahl verdeutlicht somit den hohen Preis, den wir für den „Schutz der Grenzen“ zahlen, politisch, moralisch und rechtlich. Die in der Flüchtlingspolitik erprobte „neue Härte“ legitimiert hartes Durchgreifen im Inneren und befeuert autoritäre Entwicklungen.
Denn je militanter Grenzen verteidigt werden, um die vermeintliche Ordnung dahinter vor dem „Fremden“ zu bewahren, desto stärker wird sie bedroht: Chaos, Gewalt und offene Rechtsbrüche, das Gefühl der Ohnmacht und Resignation strahlen ins Innere aus. Das nährt die Sehnsucht nach Ordnung und Sicherheit, nach Abgrenzung des Eigenen bei gleichzeitiger Abwehr des anderen. Diese Sehnsucht beantworten die „starken Männer“ (und Frauen) der Rechtsparteien in Form von Festungsfantasien, womit sie das Gefühl der Bedrohung von außen noch weiter anheizen.
Als fatal erwies sich die Strategie der Mitte, „den Rechten“ das Wasser abgraben zu wollen, indem man deren Positionen und Diskurse übernahm. Vielmehr ist der Aufstieg rechtsextremer und anti-demokratischer Kräfte in ganz Europa durch Anbiederung an die radikalen Ränder bedingt. Zugeständnisse der politischen Mitte an restriktive, das Flüchtlingsrecht einschränkende Positionen haben diese nicht entmachtet, sondern salonfähig gemacht. Das offizielle Europa bereitete den Boden für rechte Parteien, die den Diskurs bei nächster Gelegenheit wohl wieder ein Stück zu ihren Gunsten verschieben. Vor allem dann, wenn sich die Strategie der „Abschreckung“ – wie die Erfahrung der letzten Jahren gezeigt hat – erneut als wirkungslos erweisen wird. Denn die eigentlichen Fluchtursachen bleiben davon unberührt.
Diese Woche erscheinen zwei neue Bücher von Judith Kohlenberger. Der persönliche Essay „Grenzen der Gewalt“ (Leykam, ET 11.6.) richtet den Blick an die Grenzen, das Sachbuch „Gegen die neue Härte“ (dtv, ET 13.6.) erkundet, was die dort seit Jahren erprobte Gewalt mit der Gesellschaft im Inneren gemacht hat.